Heul nicht. Doch!

Im Mai fand der evangelische Kirchentag in Hannover statt. Gemeinsam mit Tobias Bilz, Landesbischof von Sachsen, gestalteten wir einen Bibeldialog. Das war ein Veranstaltungsformat, das vormittags an vielen Orten stattfand und auch prominent besetzt war wie von Angela Merkel, Luisa Neubauer oder Bischöfin Mariann Edgar Budde.
Die Bibelstelle des Tages waren die ersten Verse aus dem Matthäusevangeliums (Kapitel 28), wo Jüngerinnen zum Grab Jesu gingen. Die Protagonisten sind zwei Frauen, ein Engel und der auferstandene Christus. Die Frauen waren die Ersten, denen Jesus nach seinem Tod begegnet. Frauen! Sie waren nicht mal als Zeuginnen vor Gericht zugelassen und nun das.
Aber zuvor sah der Engel ihren Kummer und sagte: „Hab keine Angst!“ Als sie Jesus trafen, fragte er: „Frau, warum weinst du?“

Hier werden Gefühle wahr- und ernstgenommen. Niemand sagt: „Heul doch nicht!“
Tränen werden gesehen. Niemand wertet deine Gefühle ab. Erst wahrnehmen, dann handeln.

Ich behaupte sogar, dass wir handlungsfähiger werden, je besser wir unsere Gefühle verstehen. Wenn mir etwas auf der Seele drückt, muss ich erst herausfinden, was es ist. Ist es Traurigkeit, Erschöpfung oder Angst? Ich versuche aufzudröseln, was hinter den Gefühlen steckt. Das ist so, als würde mich Jesus fragen: „Warum bist du traurig/ alleine/ unzufrieden/ mutlos?“ Ja, warum? Innehalten und Nachdenken, aber dann geht es weiter. In der Bibelstelle forderte der Engel die Frauen auf: „Geht in die Gemeinschaft.“ Lauft und erzählt. Erzählt und handelt. Handelt und liebt.

Eine ältere Dame sprach mich nach der Veranstaltung an. Sie straffte ihren Rücken und ihre Stimme: „Also, ich habe gelernt, dass man Gefühle unterdrücken soll.“
Sie sagte es so, als hätte ich sie dafür beglückwünschen sollen, dabei dachte ich nur: Das tut mir leid für Sie!

Hab keine Angst!

Wenn schon der Himmel unsere Gefühle ernst nimmt, wie könnten wir sie dann unterdrücken?
Als ich um meinen verstorbenen Mann trauerte, stellte ich mir vor, die Trauer sei eine Person. Sie war kein ungezogenes, plärrendes Kind, sondern eine gütige alte Dame. Sie ging durch die Zeit von Generation zu Generation und hatte schon alles gesehen. Sie weiß, wie es ist, einen lieben Menschen zu verlieren, einen Traum aufzugeben oder wie es sich anfühlt, um Möglichkeiten beraubt zu werden. Das Leben zieht Grenzen durch unseren Alltag.
„Hab keine Angst!“, sagt der Engel. „Warum weinst du?“, fragt Jesu. Wir können weinen und seufzen oder sogar schreien: „Darum und deswegen!“

Als Autorin liebe ich es, in andere Perspektiven zu schlüpfen. Was haben die Frauen gefühlt und gedacht, als sie zu Jesus Grab gingen?
So stelle ich mir das vor:

Der Kummer hat mich in die Zeit genagelt. Stillstand.
Trauer tropft mir von der Seele. Verlust.
Ich ertrinke in meinen Tränen. Keine Hoffnung.

Wenigstens das eine will ich noch tun: Ihn ehren und mich verabschieden. Maria begleitet mich. Ohne sie hätte ich nicht den Mut gefunden. Doch gemeinsam schaffen wir das.
Wie Diebe huschen wir durch die Dämmerung. In meinen Beutel trage ich Leinentücher und Nardenöl. Es sind nur wenige Tropfen Öl, doch sie sind das kostbarste, was ich habe. Ein trauriger Schatz.
„Und wenn uns die Männer sehen?“, flüstert Maria.
„Was?“
„Wenn uns jemand sieht, aufhält, festhält?“
„Seit wann werden wir gesehen?“
Maria rümpft die Nase und ich blinzle mir die Tränen weg. Jesus hat uns gesehen, angesehen, zugesehen – sich für uns interessiert – was wir denken und fühlen. Als er mich das erste Mal nach meiner Meinung fragte, fand ich keine Worte. Er hatte mich überrumpelt. Das tat er öfters; seine Freundlichkeit, seine Zugewandtheit, seine Art zu erzählen und das Brot zu teilen. Er hat mich mit Liebe überrascht und ertappt, ermahnt und gesegnet.
Maria nimmt mich an die Hand.
„Nicht jetzt! Später können wir weinen. Schnell. Komm.“
Wir eilen auf schmalen Wegen an Grabstätten vorbei. Rosmarinzweige wippen über den Weg. Meine Füße streifen ihn und Duft steigt auf, die ersten Vögel zwitschern, ein Igel huscht unters Gebüsch, Wind rauscht in den Ästen der Terebinthen, die aufgehende Sonne spielt mit den Farben blau, lila, orange. Unerhört, wie lebendig und schön, alles um uns herum ist. Müsste nicht die Welt vergehen bei all dem Kummer und Schmerz?

Susanne Ospelkaus