Rückwärts verstehen

Es ist ja so eine Sache mit den Erinnerungen. Sie verändern sich mit der Zeit. Ich spüre, wie sich meine Erinnerungen an meinen Schwiegervater verschieben. Früher waren sie von seiner Distanz, Unbeherrschtheit und einer gewissen Härte verfärbt. Wie oft hatte ich mich für ihn geschämt, weil er fremde Menschen ermahnte? Er schimpfte mit Kindern, die Blumen im Botanischen Garten pflückten oder mit Schwangeren, die eine Zigarette rauchten. Heute empfinde ich Bewunderung, weil er sagte, was er dachte. Er hatte ja recht, die Blumen waren für alle da und Rauchen ist gefährlich.
Im bayrischen CSU-Land war er ein überzeugter SPDler, weil eine starke Opposition wichtig sei. Aber eins hatte mich immer an ihn irritiert – seine Leidenschaft für die Kinderromanfigur Das Sams.

Spurensuche
Das Sams lernte ich erst als Erwachsene kennen. Mein Schwiegervater hatte ihn mir aufgedrängt mit Büchern und Puppenspielen. Stolz erzählte er, dass er als Maler für die Firma Maar gearbeitet hatte, und ich dachte nur, na und? Vor fünf Jahren erschien die Biografie von Paul Maar und nun verstehe ich. Paul und er wurden beide 1937 in Schweinfurt geboren und lebten sogar im gleichen Viertel. Paul sollte die Malerfirma seines Vaters übernehmen, aber er wollte nicht. Auf keinen Fall! Er schrieb von seiner Kindheit in Kriegszeiten, wie schwer es war, sich Träume zu erlauben und auf eigenen Wege zu gehen, weil der Vater das Sagen hatte. Mein Schwiegervater tat, was man von ihm erwartete; er wurde Maler. Wahrscheinlich war das Sams sein geheimes Vorbild. Jemand, der alles durfte und sein konnte, was es wollte. Menschenskinder, ist das Sams frech, laut, lustig, risikofreudig, launisch und fröhlich.

Brüche in der Biografie
Mein Schwiegervater disziplinierte sich selbst am meisten und über Gefühle sprach er nie, weil er nicht konnte oder weil ihm die Worte fehlten? Paul Maar fand Worte.
Ein Gedicht heißt: Schön sind Wörter, die einfach sind.
Es sind existenzielle, hoffnungsfrohe und lebensbejahende Worte wie Brot, Wein, Tisch, Fisch. Ich fühle mich versöhnt mit den Widersprüchen, wenn ich an meine Verstorbenen denke. Rückblickend werden Verhaltensweisen verständlich, weil ich lerne und mich das Leben verändert, weil andere ihre Biografie öffnen. Sich öffnen und verstehen, sich öffnen und lernen, sich öffnen und empfangen. Wenn ich im Stil von Maar das Gedicht ergänzen dürfte, würde es lauten:

Hoffnung, Mut, Kraft, Friede.
Licht, Gnade, Hoffnung,
Liebe.
Schweigen, reden, hörn,
verstehn.
Lachen, weinen, mitfühln, Wege
gehn.
Himmel, Erde, Gottes
Thron.
Treue, Güte, Menschen
sohn.

zuerst erschienen in FamilyNEXT 3/25