Wehmut im Herbst
Ich bin ein Herbstkind. An meinem Geburtstag gab es immer Weintrauben und Lilien. Mein Vorname bedeutet im Hebräischen Lilie. Im Herbst ist es noch warm genug, um in einen See zu hüpfen, und morgens ist es so frisch, dass Nebel über die Felder wabert. Wir gehen zu Volksfesten und feiern Erntedank – eine schöne Zeit, doch mein Inneres spürt Abschied.
Neujahr im Herbst
Seit ich Kinder habe, beginnt im Herbst das eigentliche Neujahr. Leere Schulkalender heftete ich an den Kühlschrank, Schubfächer wurden aufgeräumt, Sachen hergerichtet. Alles auf Neustart für Kindergarten, Schule, Ausbildung oder Studium. Neben der Aufregung, dass unsere Kinder in eine neue Lebensphase gleiten, pulsiert die Wehmut in mir. Ich muss Loslassen; eine Lebensphase, eine lieb gewonnene Routine, mein Kind.
Auf eigenen Füßen
Mit 18 Jahren zog mein ältester Sohn aus. Er war so weit weg, dass wir eine Übernachtung einplanen mussten, wenn wir ihn besuchten. Ich fand, dass ich sehr tapfer war. Ich habe ihn fröhlich verabschiedet und mich mit ihm gefreut. Geweint habe ich heimlich und mich wehmütig in Erinnerungen gekuschelt. Für meinen Mann und unser jüngster Sohn ging der Alltag scheinbar weiter wie bisher. Doch unsere Familiendynamik hatte sich verändert. Die Gespräche am Tisch waren andere. Überhaupt wurde die gemeinsame Tischzeit seltener. Ich bedauere es, aber so ist das eben, wenn die Kinder erwachsen werden. Ich erinnere mich an die Momente, als ich die Jungs als Säugling auf den Arm hatte und jeder mit größeren Kindern sagte: „Genieße es!“ Das habe ich tatsächlich versucht, obwohl ich erschöpft war. Ich schaute mir die kleinen Hände an, spürte den Haarflaum und atmete diesen einzigartigen Babyduft ein.
Das muss so sein.
Menschenskinder, wie die Zeit vergeht. Manchmal komme ich nicht hinter. In diesem Herbst steigt unser Ältester ins Berufsleben ein. Er hat die Arbeitsstelle bekommen, die er sich gewünscht hat, und zieht in ein neues Zuhause. Die Wehmut in mir seufzt: „Jetzt ist er wirklich weg.“ „Ja“, sage ich, „aber das muss so sein.“ Ich wusste nicht, dass es sich so anfühlt, ein Kind loszulassen. Empty Nest Syndrom nennt man angeblich diesen Zustand. Das klingt wie eine Krankheit, dabei gibt es viel Grund zur Freude und Dankbarkeit. In all den Jahren habe ich tapfer das Loslassen geübt, wenn ich im Kindergarten meinen Sohn einen Abschiedskuss gab, ihn auf seinen Schulweg zur Eile mahnte, den Jugendlichen um Vernunft bat, den Erwachsenen segnete. Es ist Herbst und ich bin wehmütig – so ist das eben. Es ist Herbst mit Nebel und Sonne, Lilien und Weintrauben, Loslassen und Empfangen. Ich weiß meine Kinder geborgen und ganz ehrlich: Ich freue mich an dem Freiraum, der entsteht, weil ich mich nicht mehr kümmern muss.
zuerst erschienen FamilyNext 5/25