Nuancen

Wir feiern den Beginn des Lebens. An Geburtstagen lassen wir uns etwas Besonderes für die Kinder einfallen. Sie bekommen eine Geburtstagskrone und dürfen sich einen Kuchen wünschen. Egal, wie schwierig die Herstellung ist. Wir werkeln am Blechkuchen, der wie Fußballrasen aussehen soll, an runden Torten auf denen die Eiskönigin thront oder an Rührteig, aus denen Piratenschiffe geformt werden. Wir lassen uns viel einfallen, um das Leben zu feiern: Feste, Geschenke, Ausflüge. Das ist gut und wichtig und wundervoll.

Doch wenn es um das Ende des Lebens geht, sind wir stumm, steif und ideenlos. Dabei ist nichts in unserem Leben so vorhersehbar wie der Tod.
Ich sehne mich nach einer Unbeschwertheit im Umgang mit schweren Themen. Ich wünsche mir Worte für das Unsagbare, damit unsere Kinder nicht stumm bleiben. Ich wünsche mir Bilder für das Unbegreifliche, damit unsere Kinder nicht hoffnungslos bleiben. Ich wünsche mir viele Nuancen in Gedichten, Liedern und Geschichten, die den schweren Themen den Schrecken nehmen.

In einem Buch von 1920 fand ich eine Geschichte, die mit wohltuender Ruhe von einem Kind und seiner sterbenden Mutter spricht. Pinocchio und Nils Holgersson erzählen von Abenteuern, Siegen, Freundschaft und Liebe, dabei klammern sie den Tod nicht aus. Wir brauchen noch immer diese Geschichten, denn der Kreislauf des Lebens ist zeitlos.

Ich suchte nach einer Metapher, um damals meinen kleinen Jungs zu erklären, dass ihr Papa gestorben ist und nie mehr wiederkommt.
„Nie mehr?“
„Ja.“
„Aber nächste Woche, oder?“
„Nein. Er kommt gar nicht wieder.“
Ich verzweifelte an den drängenden Kinderfragen und sehnte mich nach einer Erklärung. Wie sollen Kinderherzen den Tod begreifen, wenn wir Erwachsenen ihn nicht fassen können?
In einem Fachartikel las ich über Libellen. Sie leben zwei Jahre als Larven in einem See. Teichfreunde fürchten sie, weil sie so gefräßig sind. Libellenlarven sind wild und risikofreudig. Dagegen ist die Schmetterlingsraupe nur gefräßig und träge. Ich stellte mir unser Leben eher wie das einer Libellenlarve vor – aufregend, überraschend und aktiv. Und dann kam der Tag, an dem die Larve den See verlassen musste und sich an Land zu einer Libelle wandelte.

Elias_Kinderbuch_Ospelkaus.jpg

„Jetzt kann die Libelle nicht mehr in den See“, sagte mein vierjähriger Sohn.
„Ja, genauso kann ein verstorbener Mensch nicht mehr zurückkommen.“
„Nein, das geht wirklich nicht.“ Verständig wippte sein Köpfchen auf und ab.


Manchmal sind es Geschichten und Bilder, die trösten. Manchmal trösten Fakten.
Der Moderator und Autor Ralph Caspers schrieb das Sachbuch „Wenn Papa jetzt tot ist, muss er dann sterben?“

Ralph Caspers.jpeg

In kurzen Kapiteln geht Ralph Caspers Kinderfragen nach z.B. Was passiert, wenn man stirbt? Darf man einen Toten berühren? Was geschieht mit dem toten Körper? Darf man etwas in den Sarg hineinlegen? Was kann man gegen das Vergessen tun? Wie lange trauert man?
Mit behutsamen und ehrlichen Worten findet der Autor Antworten. Er lädt ein, die Trauer als individuellen Prozess zu verstehen, und er gibt hilfreiche Tipps für betroffene Kinder und Jugendliche, für Familien und Angehörige. Ralph Caspers verschweigt auch nicht die Biologie des Sterbens wie Zersetzung und Verwesung. Es kann entlastend sein, wenn Kinder begreifen, dass der Tod zum Leben gehört und wir in einem Kreislauf leben. Das Buch zieht den Leser nicht in den Schmerz hineinzieht, sondern möchte Antworten geben, trösten und begleiten. Ralph Caspers findet viele Nuancen, um Kindern in der Trauer zu helfen.


Die Liebe ist ein Thema, die besungen und verdichtet, analysiert und vermessen, erspürt und gefühlt wird. Es gibt viele Arten und Weisen, sie zu beschreiben. Aber es braucht genauso viele Ausdrucksformen und Nuancen, um den Tod zu begreifen.