Ist das so?

Ich bin viel unterwegs. Mit meinen Büchern und Workshops spreche ich in Kirchen, christlichen Gästehäusern, caritativen Einrichtungen und diakonischen Werken. So viele Begegnungen, so viele Geschichten. Die Menschen erzählen über Gott und Glauben. Ich höre zu und manchmal habe ich den Eindruck, dass der Glaube nicht etwas ist, was trägt und beflügelt, sondern was belastet und bedrückt. So sollte es nicht sein.


Fühlen und glauben

Die Rollenbilder brechen auf, Carearbeit und die Mehrfachbelastung von Frauen wird wahrgenommen – Gott sei Dank. Im Gemeindekontext gibt es den Anspruch, sich als gute Christin zu engagieren: Kinderdienst oder Lobpreis vorbereiten, im Begrüßungs- oder Putzdienst sein, Frauenkreis und Müttergebet unterstützen, eine Kleinigkeit für das Buffet und etwas Deko mitbringen … und Gäste für den Sonntagsgottesdienst einladen.
„Das schaffe ich nicht“, sagte eine junge Frau zu mir. „Ich will nicht, dass meine Gäste sehen, wie erschöpft ich am Sonntag bin. Die anderen Frauen schaffen das.“
Ist das so? Schaffen es die anderen? Erschöpfung und Müdigkeit sind wichtige Signale. Irgendetwas ist viel zu viel. Müdigkeit ist kein Zeichen von mangelnder Hingabe. Erschöpfung ist kein Merkmal von geringem Glauben.
„Ich habe Herzrasen, wenn mir diese Person begegnet. Doch da muss ich durch, als Christin soll ich ja sogar meine Feinde lieben.“
Die Dame knetete ihre Hände. Ich fragte: „Aber wenn ihr Gefühl sagt, dass es ihnen nicht guttut.“ Entsetzt schaute sie mich an: „Ich kann doch nicht auf mein Gefühl hören.“
Ist das so? Sind Gefühle trügerisch?
„Mein Kind ist schwul, nun kann ich den Dienst nicht mehr leiten.“ Tiefe Falten zogen sich durch das Gesicht der Frau. „Ich habe als Mutter versagt. Ich bin kein Vorbild für andere Familien.“
Ist das so?

Wahrnehmen und ausdrücken

Egal, wo ich unterwegs bin, vertrauen sich mir die Frauen an, aber ich bin ja auch schnell wieder weg. Ich kann nicht nachfragen oder erinnern. Wir müssen sprachfähig sein und bleiben – erst recht im vertrauten Kreis.
Kann bitte jemand der jungen Mutter sagen, dass sie mal sonntags ausschlafen darf, und dass ihre Kinder sogar den ganzen Tag im Schlafzeug rumlaufen könnten.
Kann bitte jemand die alte Dame ermutigen, ihre Gefühle wahrzunehmen und diese Fähigkeit sogar als Geschenk des Himmels anzuerkennen.
Kann bitte jemand die Frau erinnern, dass die Lebensweise ihres erwachsenen Sohnes nichts mit ihrem Dienst zu tun hat.
In so vielen Gesprächen marschierten die Gedanken durch den Raum und kommandierten: „Du tust nicht genug als Ehefrau, Mutter, Dienerin, Glaubende, Schwester. Du bist nicht genug.“
Ist das so?

Du bist genug!

Sprechen und verbünden

Mehr als genug, heißt es in der Bibel. Gottes Gnade ist mehr als genug! Christliche Gemeinschaften sind sichere Ort, wo Überforderung und Scham aufgehoben sind. Ich bin sicher, dass es Geschwister gibt, die zuhören und helfen, das Unaussprechbare in Worte zu kleiden. Wir brauchen Worte für all die komplizierten Gefühle in uns. Es ist wie mit dem Rumpelstilzchen aus dem Märchen. Wenn die Prinzessin es nicht beim Namen nennt, wird sie ihr Liebsten verlieren. Sie rät und errät. „Heißt du etwas Rumpelstilzchen?“ Das Stilzchen rumpelt und zerfetzt sich selbst. Die Gefahr verschwindet. Scham, Erschöpfung oder Zweifel zu benennen, ist mutig und ein Akt des Glaubens. Und manchmal erzähle ich auch von den Herausforderungen, die an mir zerren, dass mir die Worte fehlen, dass ich nicht weiterweiß, dass ich die Sicherheit der Gemeinschaft brauche. Menschenskinder, so ist das eben!

Lasst uns verbünden

und sprechen

und hören

und vertrauen.

zuerst erschienen in FamilyNext 2/24