Über Erinnerungen

„Ein Organ studiert sich selbst“ so hieß das Buch, dass ich während einer Fortbildung durcharbeitete. Es ging um Aufbau und Struktur des Gehirns, um Neurophysiologie- und psychologie. „Ein Organ studiert sich selbst“. Was für ein schöner Titel!
Letztens hatte ich es aufgeschlagen, denn ich wollte wissen, ob sich unsere Erinnerungen verändern. Was passiert im autobiografischen Gedächtnis? Verändert es sich? Wenn ja, warum und wie?

Zur Bucherscheinung von „Meine durch das Trauerland“ wurde ich oft gefragt, ob das Schreiben eine Form der Trauerbewältigung war. Nein! Dieser Prozess liegt schon Jahre zurück. Viel mehr ist das Buch für Leser, für Betroffene und für Angehörige. Doch während des Schreibens stellte ich fest, dass sich meine Erinnerungen verändert hatten. Tagebücher und alte Kalender offenbarten mir, dass Dinge anders abliefen, als ich zu wissen meinte.
Ist das nicht auch die Sorge von Trauernden; Details über den Verstorbenen zu vergessen?
Eltern wagen nicht, das Zimmer ihres verstorbenen Kindes auszuräumen. Witwen heben den alten Anzug ihres Ehemannes auf. Manche Trauernde konservieren ihre Erinnerungen aus Sorge, sie zu verlieren.
Doch offenbar ist der Mensch so geschaffen, dass sich selbst Erinnerungen verändern.

Gedächtnisforscher beweisen, dass es keine Schubkastl für Kurzeit-, Langzeit- oder mittelfristiges Gedächtnis gibt. Die Strukturen sind verwoben. Informationen werden weitergeleitet, gefiltert und aussortiert. Starke persönliche Erlebnisse passieren das limbische System und werden mit Emotionen versehen und synchronisiert, bevor sie in bestimmten Bezirken der Hirnrinde wieder gespeichert werden. Durch Wiederholungen verändert sich die biografische Note der Erinnerungen und wird auf die linke, analytische Hirnhälfte übertragen. Sie wird zu einem Wissen.

Meine Trauererfahrung hat noch immer eine emotionale Komponente, aber sie ist auch zu einem Wissen geworden, aus dem ich schöpfe. Die Trauererfahrung wurde zu einer Lernerfahrung.
Doch, ich bin dankbar, dass die emotionale Kraft nachlässt. Wir würden zugrunde gehen, wenn sich Schmerz nicht verändern würde.
Manchmal spreche ich mit meinen Eltern über meinen verstorbenen Mann Thomas. „Mutti, weißt doch noch …?“
„Nein, das war doch ganz anders.“
„Ehrlich?“, und dann krame ich mich durch die Zeit.

Wir sollten keine Angst haben, dass sich Erinnerungen verändern. Erinnerungsarbeit braucht die Gemeinschaft und das Miteinander, ob bei einem persönlichen Verlust, gesellschaftlichen Versagen, terroristischen Übergriffen oder Naturkatastrophen.
Weil wir leben, ist auch Vergangenes lebendig und diese Lebendigkeit lässt uns nach vorne schauen – auch das bestätigen Gedächtnisforscher.