Bedürfnisorientiert

Seit über zwanzig Jahren arbeite ich therapeutisch mit Kindern und ihren Eltern. Meistens brauchen sie Unterstützung bei Entwicklungsverzögerungen, Verhaltensauffälligkeiten oder Lernschwierigkeiten. Alle paar Jahre scheint es eine neue Elterngeneration mit ihren besonderen Erziehungsstilen und Herausforderungen zu geben. Eltern bemühen sich, bedürfnisorientiert zu erziehen. Doch was bedeutet das?

Die kindliche Entwicklung ist faszinierend. Zu keiner Zeit lernt der Mensch so viel und so schnell. Wir sind bedürfnisorientierte Wesen. Wir haben ein Bedürfnis nach Atem und Nahrung, nach Nähe und Sicherheit, nach Verstehen und Verständnis, Gemeinschaft und Muse, Kreativität und Freiheit.

Wenn Eltern mir erzählen, dass sie ihr Kind bedürfnisorientiert erziehen, schaut mich oft ein unzufriedenes und unausgeglichenes Kind an. Entweder wirkt es lustlos und träge oder sprunghaft und überdreht. Ich möchte Eltern keine Vorwürfe für ihren Erziehungsstil machen, sondern gemeinsam hinschauen, was das Kind wirklich braucht.

Smartphone und Tablets sind eine Selbstverständlichkeit in Familien. Sie verkürzen Wartezeiten, machen Autofahrten erträglich oder beruhigen ein krankes Kind — das ist gut. Aber niemals stillt ein digitales Gerät ein kindliches Bedürfnis!
Kein Video kann das Vorlesen ersetzen. Kein Onlinespiel kann Berührung und Bewegung ausgleichen. Selbst Lernspiele können keine haptischen Erfahrungen bieten. Unser Nervensystem, Hirn und Sinne hungern nach echten Reizen aus dem echten Leben. Smartphone & Co hingegen stumpfen uns ab. Weder Klein-, noch Kindergartenkinder haben ein Bedürfnis nach dieser Unterhaltung. Wenn sie sie verlangen, dann eher aus Gewohnheit oder mangelnden Alternativen.

Ich verstehe, dass Eltern erschöpft sind und die Geräte es ermöglichen, einen Moment Ruhe zu haben. Aber ist damit ein Bedürfnis gestillt? Wenn die Kinder von der KiTa abgeholt werden, haben die Kleinen das Bedürfnis nach Nähe. Oft wollen sie erzählen und zeigen, was sie gemacht oder mit wem sie gespielt haben. Es war ihr Tagwerk und sie sehnen sich nach Beachtung. So oft begegnen mir Eltern in Einrichtungen mit dem Handy am Ohr oder in der Hand und mit geteilter Aufmerksamkeit. Im Warteraum der Praxis sitzen keine Vorleser mehr. Kaum jemand nimmt sein Kind auf dem Schoß, um ein Buch anzuschauen. Mit gekrümmten Nacken und steifen Daumen schauen sie nur auf ein Display.

Eltern sind bereit, viel zu tun, um ihren Nachwuchs bei Herausforderungen zu helfen. Sie fragen mich nach Übungen und Arbeitsblättern. Nur selten teile ich Material aus, viel eher ermutige ich, das Kind in den Alltag hineinzunehmen. Was lässt sich alles üben, wenn man zusammen den Tisch deckt, Handtücher faltet, Kuchenteig rührt oder staubsaugt?
„Aber das macht mir nur noch mehr Mühe“, erwidern sie. Ja, das stimmt … anfangs. Doch der Lernerfolg ist groß. Wenn ein Kind die Tupperdosen sortiert, übt es Formen und Größen, erkennt Farben, plaudert mit der Mama und ist im Familiengeschehen. Vor allem Kindergartenkinder wollen helfen. Sie finden es toll, Socken mit Wäscheklammern aufzuhängen oder den Tisch zu decken.
Kinder sind neugierig. Sie wollen alles verstehen, begreifen und Antworten auf ihre Fragen finden. Neugier ist ein Bedürfnis, das uns lebenslang antreibt.

Die kindliche Entwicklung ist ein Wunder, darüber sollten wir uns viel mehr wundern, statt zu vergleichen oder Normen zu überprüfen. Nie mehr lernt der Mensch so schnell und so viel mit seinen Sinnen wie in den ersten Lebensjahren. Er bezwingt die Schwerkraft, erkundet den Raum, entdeckt das eigene Ich und das Gegenüber, drückt Gefühle und Gedanken aus, löst Probleme, verschenkt Aufmerksamkeit, gerät ins Staunen, überwindet Langeweile und lebt das Leben.

Die digitalen Geräte sind Teil unseres Alltags, aber sie stillen keine Bedürfnisse. Zärtlichkeit und Wohlbehagen, Sicherheit und Freiheit, Neugier und Kreativität entfalten sich nur im Miteinander.