Fugen im Mosaik

Als Autorin entwerfe ich Geschichten wie Mosaike. Szene für Szene setze ich zusammen, damit ein besonderes, glaubwürdiges und überraschendes Gesamtbild entsteht. Ich verbaue bunte und verschieden große Steine mit Kanten, Rissen und Fugen. In meinem Kurzgeschichtenband „Dennoch“ erzähle ich von Reiner Diesel, der seine Schwächen unter Fugenmasse versteckt. Ich habe lange nach einer neurologischen Besonderheit gesucht, um dieser Figur ihr eigenes Muster zu geben.
Inzwischen fühle ich mich mit Reiner Diesel und seiner Schwäche sehr verbunden. Er leidet unter Prosopagnosie. Ich nicht, aber es fällt mir trotzdem schwer, mir Namen und Gesichter zu merken.
Jemand kommt auf mich zu: „Hallo, schön dich zu sehen!“
Ich überlege und nehme die Spur auf: Die Person duzt mich und sie freut sich. Offenbar hatten wir eine schöne Begegnung in der Vergangenheit.
„Weißt du noch, wer ich bin?“
Panik! Flucht nach vorn.
„Ja, aber hilf mir. Ich weiß deinen Namen nicht mehr.“
Sie sagt den Namen und dann sind meine Neuronen in der Großhirnrinde wieder verknüpft und ich kann mich an alle Details unserer Begegnung erinnern.

Nachdem ich durch Nichtbeachtung einige Bekannte verletzte — ich hatte sie einfach nicht erkannt — versuche ich aufmerksamer zu sein.
Als ich mich mit einer Gruppe Jugendlicher traf, begrüßte ich jeden mit einer Umarmung. Plötzlich fragt mich ein Mädchen: „Wer ist das?“
Ich lass den jungen Mann los, der mich verwundert anschaut, und flüstere zum Mädchen: „Gehört er nicht zu uns?“
Sie schüttelt den Kopf.
Bin ich jetzt eine schrullige Vierzigjährige, die Fremde umarmt? Ich bin mir dieser Schwäche bewusst, die sich wie eine Fuge durch meine Begegnungen zieht. Ich versuche, die Unebenheit zu kaschieren, und mache es wie Bond, James Bond. Ich wiederhole.
„Ah, die Sandra, die Meier Sandra, schön Sandra, dass du hier bist.“
Wenn Wiederholungen in der Werbung erfolgreich sind, werden sie auch in meinem sozialen Leben funktionieren. Wundert euch nicht, wenn ich euren Namen wiederhole oder euch umarme, obwohl wir uns nicht kennen. Keine Sorge, an die Details unserer Begegnungen kann ich mich sehr gut erinnern und freue mich, wenn neue Momente der Gemeinschaft, wie bunte Mosaiksteine dazu kommen. Unser Miteinander wird ein schönes Gesamtkunstwerk sein aus Zuhören und Reden, Lachen und Weinen, Vertrauen und Hinterfragen, Leichtigkeit und Schwere.
Seid herzlich gegrüßt von Susanne, der Ospelkaus Susanne, Susanne Ospelkaus.