Mehr Beige

Sie tanzten zu Queen. Sie sangen zu ABBA. Sie trugen Schlaghosen und gehäkelte Oberteile. Sie schmückten sich mit Flower-Power und sahen unglaublich lässig aus. Ich fasse es nicht, dass viele Menschen dieser Zeit als Senioren und Seniorinnen beigefarbene Kleidung tragen. Rentnerbeige. Wieso? Was ist passiert, dass sich irgendwann ältere Menschen Kleidung in beigegrau, beigerot, braunbeige, cremebeige, lichtbeige, perlbeige, sandbeige, wollbeige … kaufen?

Mein Ehemann ist ein Teenager der 1980er Jahre. Da knallten die Farben so richtig in allen Neontönen. Jetzt ist es passiert! Er hat sich eine beigefarbene Jacke gekauft.
„Wieso?“, frage ich.
„Sie ist von schlichter Eleganz und ich kann sie zu allem kombinieren.“
„Ja, aber in beige …?“
Letztendlich muss ich ihm Recht geben. Die Jacke passt zu fast allem. Sie ist unaufgeregt und trotzdem modisch. Vielleicht schimmert in der Vorliebe zu naturfarbener Kleidung eine gewisse Gelassenheit mit – eine wohltuende Unaufgeregtheit. Und die können wir tatsächlich gut gebrauchen.

Unsere Gesellschaft kann sich über alles aufregen: vegane Ernährung, Gendern, Tempolimit, Impfen, Klimakrise, Einwanderung, Queernes usw. Viele Meinungen knallen schwarz-weiß aufeinander. Es gibt kaum Zwischentöne. Mich strengt das an. Wie gehe ich damit um, dass mir vertraute Menschen eine Meinung vertreten, über die wir nicht argumentieren, nachdenken oder abwägen können? Schwarz-weiß. Kein dazwischen. Ich gestehe, dass ich in so mancher Situation aufgeregter bin, als ich sein sollte und schneller rede, als ich denke. Mir klopft das Herz bis in den Hals, wenn ich angefeindet werde, weil ich manche Texte gendere. Ich möchte vorschlagen: Lasst es uns wie Immanuel Kant machen; ich helfe Dir für Deine Position ein starkes Argument zu finden und dann widerlege ich es … ja und auch umgekehrt. Lasst uns doch etwas unaufgeregter sein und anständiger. Mehr Beige!

Beigtöne haben eine beruhigende und erdende Wirkung. Sie lösen ein Gefühl von Sicherheit und Wohlbefinden aus. Wie sehr wünsche ich mir in mancher Diskussion ein Gefühl der Sicherheit. Ich müsste nicht befürchten, dass eine Beziehung an den krassen Themen unserer Gesellschaft zerbricht. Man sagt, dass der Fußball ein Abbild der Gesellschaft sei, weil er unabhängig von sozialem Status, Bildung oder Herkunft beliebt ist. Wenn das stimmt, wird mir bange. Mein siebzehnjähriger Sohn ist Schiedsrichter. Klar, als Schiri weiß er, dass mindestens eine Mannschaft unzufrieden ist. Irgendjemand meckert immer. Aber in letzter Zeit wird die Situation brenzliger. Eltern drohen den Schiris, weil sie mit einer Entscheidung unzufrieden sind. Beschimpfungen, weil mein Sohn eine Brille trägt, gehören dazu. Es gibt jugendliche Schiedsrichter, die sich nicht mehr alleine auf den Platz trauen, weil die Gewalt zunimmt. Tolles Abbild der Gesellschaft! Und nun? Am liebsten würde ich den Fans von FC, TSV, SPVB oder SPV ihre knalligen Farben und ihre Wut wegnehmen. Statt Quietschgrün gibt es Beigegrün, statt Alarmrot gibt es Beigerot. In allem sollte weniger Knall, Quietsch und Alarm sein, dafür mehr Solidarität, Verständnis und Anstand.

Menschenskinder, komm mal runter!, denke ich in einer Diskussion und meine nicht nur mein Gegenüber. Herunterkommen und sich erden, den Boden spüren und Durchatmen. Bodenhaftung gewinnen und Halt finden, fühlen und mitfühlen. Ich will meine Seele und Gedanken in Beige kleiden – unaufgeregt, geerdet, beruhigend und von schlichter Eleganz (ich nenne es Selbstbeherrschung). Alle anderen Farben sind auch willkommen, denn ich will kein Gesellschaftsbild, über das ein Filter in sepia liegt und alles nur noch blass-braun schimmert. Ich wünsche mir Kontraste mit einer Nuance Unaufgeregtheit.
Ein Lob auf das Beige!

zuerst erschienen in der Kolumne Menschenskinder, FamilyNest 5/23