Gemeinsame Augenblicke sammeln

Wenn andere Familien erzählen, dass sie gemeinsam im Verein sind oder ein gemeinsames Hobby haben oder jedes Wochenende gemeinsam zu einem Wettbewerb fahren oder gemeinsam regelmäßig ins Theater gehen, Karten spielen, Musik machen … werde ich ganz still. Unsere Familie hat vor allem eine Gemeinsamkeit: Wir essen gern. Wir treffen uns am Esstisch. Mahlzeit!

Ich habe mich immer sehr bemüht, trotz unserer unterschiedlichen Interessen meiner Familie Anknüpfpunkte zu finden. Wie bekommt man Football und Fußball, Anime und Modellbau, Motorradfahren, Ehrenamt und Kulturausflüge unter einen Hut? Als Teenager interessierten sich unsere Söhne für das Marvel-Universum. Wir schauten zuerst die alten Filme wie Hulk und Spiderman und amüsierten uns über die Filmtechnik der 1980er-Jahre. Dann gingen wir regelmäßig ins Kino und diskutierten Handlungsstränge und Figurenentwicklung. Manchmal war richtig dicke Luft, weil einige Fragen nicht geklärt werden konnten. Hatte Thors Hammer Mjölnir von sich aus Kraft oder nur, wenn Thor ihn benutzte?
Die Superhelden setzten mich auf eine Fährte und ich suchte nach weiteren Familienmomenten. Ich entdeckte eine Ausstellung des Marvel-Gründers Stan Lee mit seinen Skizzen und Entwürfen. Das interessierte alle und plötzlich eröffnen sich ganz neue Themen. Stan Lees jüdische Familie stammte aus Rumänien und immigrierte in die USA. Die Fluchterfahrungen verarbeitete er in X-Man. Die Parallelen zwischen Nazis und Hydra sind nicht zufällig. Black Panther hätte es ohne die Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre nicht gegeben. Susan Richards alias Storm war die erste Superheldin im Marvel-Universum – selbstbewusst, tatkräftig und handlungsfähig. In dieser Familienzeit entwickelten sich Gespräche über Antisemitismus oder Misogynie.

Als ich bemerkte, dass meine Söhne die Podcasts von Carolin Kebekus anklickten, nahm ich auch diese Fährte auf. Auf Autofahrten hörten wir uns ihre Shows an. Ups, da ging es derb zur Sache mit Witzen über Sex, Masturbation, Intimhaarfrisuren und weiblichen Zyklus. Doch die Kebekus kriegt immer die Kurve und dann wird es ernst und ernsthaft. Es geht um Selbstbestimmung und Frauenrechte. Ich finde es gut, dass meine Söhne es hören. Humor ist ein guter Weg, um sich von falscher Scham zu befreien. Letzten Sommer haben wir ihre Liveshow Pussynation gesehen. Ab und zu habe zur Seite geschielt, wie meine Söhne reagieren. Jetzt sind sie vollumfänglich über Tampons und Menstruationstassen informiert. Nun ja, darüber habe ich tatsächlich nie mit ihnen gesprochen und so lustig wie die Kebekus hätte ich es auch nicht hinbekommen.

Seit neun Monaten lebt unser ältester Sohn nicht mehr bei uns und gemeinsame Familienmomente sind selten. Wenn er da ist, treffen wir uns, wie kann es anders sein, am Esstisch. Es gibt keinen besseren Ort für Gespräche und Nähe. Inzwischen sind meine Marvel-Fans zu Mangafans mutiert. Die japanische Popkultur befremdet mich. Ob ich mich auf Anime einlassen kann? Mein Sohn bastelt an seinem Cosplay-Kostüm und will mich zur Leipziger Buchmesse begleiten. Menschenskinder, das fände ich richtig schön. Vielleicht ergeben sich ganz neue gemeinsame Momente.

Ich muss mich nicht mehr für jedes Thema meiner Söhne interessieren. Inzwischen vertraue ich, dass sich gemeinsame Zeiten ergeben, weil wir immer im Gespräch waren, ob Kinofilme oder Menschenrechte, Comedy oder Frauenrechte, Mangas oder Identität … orientalische oder thailändische Küche, Pizza oder Sushi?


Auf der Leipziger Buchmesse mit Bücherfreunden, Verlagen und Autorenkollegen … und meinem Sohn.

Nachtrag: Auf der Leipziger Buchmesse
Immer wieder vergesse ich, wie die Cosplay-Figur meines Sohnes heißt. Auf jeden Fall ist sie großartig und hat den Waffencheck bestanden. Was ich als Dienstreise geplant hatte, wurde auch zu einen schönen Familienmoment.


zuerst erschienen in FamilyNEXT 3/23