Mehr als nur Nebel

Die Wolken hängen tief, krauchen über die Straßen, durchfeuchten meine Kleidung und nehmen mir die Sicht. Ich kenne den Weg durchs Dorf, trotzdem verunsichert mich der graue Dunst. So muss es sein, wenn man die Orientierung verliert, denke ich. Keine Anhaltspunkte. Keine Wegweiser. Nichts, woran sich das Auge festhalten kann. Innenschau statt Ausschau.

Ob es unseren Vorfahren ähnlich ging, als sie die Feiertage in den November hingen, passend zu Kälte und Nebel, Verborgenheit und Stillstand?
Heute ist Buß- und Bettag und wenn meine Kinder nicht schulfrei hätten, hätte ich es nicht bemerkt. Mittagessen hatte ich nicht eingeplant, dann wird es nachher nur Kaiserschmarren geben. Die Eier hole ich am Automaten.
Büßen und Beten, diese Worte folgen mir, als ich durch das Dorf gehe vorbei am Metzer und Maibaum. Büßen und Beten, das klingt nicht nach einer wohltuenden Auszeit, eher nach Strafe, Sühne und Wiedergutmachung.
Ich eile weiter und den Briefkasten bemerke ich erst, als ich davor stehe. Selbst das Gelb wird von der Feuchtigkeit geschluckt. In der frühen Christenheit stand die Farbe Gelb für Neid, Tod und Verderben. Vieles blieb den Menschen verborgen. Das Unerklärliche war gleich nebenan, lauerte in dunklen Ecken, Krankheit und Entbehrung. Ich erahne ihr Bedürfnis nach Orientierung und Gnade. Sie prüften ihr Gewissen, baten um Vergebung und taten Fürbitte. Das darf uns nicht abhandenkommen, auch wenn wir vieles erklären können.
Der christliche Kalender hatte mehrere Tage für Buße und Gebet reserviert. In der Neuzeit wollte man wenigsten an einem Tag im Jahr gemeinschaftlich innehalten und hinterfragen, Gutes bewahren, sich von Missständen mahnen lassen und Neues wagen.
Die Münzen klimpern im Automaten. Ich beuge mich hinab und warte, bis der Eierkarton zur Luke geschoben wird. Hinknien und warten. Das ist auch eine Haltung, die zum November passt. Wo brauche ich Vergebung und wem sollte ich sie aussprechen? Was schenkt mir Orientierung, wenn der Weg nicht offensichtlich ist? Welche Gewohnheiten möchte ich ablegen und welche mir aneignen?
Vorsichtig trage ich die Eier nach Hause.

Ich nehme die Abkürzung über den Friedhof. Der Schmuck von Allerheiligen verliert seine Farbe, aber die Grablichter leuchten. Sie strahlen gelb wie Leben, Wärme und Hoffnung.

Was auch immer es ist – die Art und Weise, wie du deine Geschichte online vermittelst, kann einen gewaltigen Unterschied ausmachen.

Ein Lampion vom St. Martinsumzug hängt zerfleddert im Gebüsch. Ja, diesen Tag gibt es auch im November mit Laternen und Liedern, Gänsebraten und Geselligkeit, guten Taten und Geschichten. Alles hat seine Zeit und heute bleibt sie stehen und wartet, dass ich mich reflektiere, bete und handle.
Noch immer kraucht der Nebel über die Wege und verfängt sich in Bäumen.
Es ist mehr als nur Nebel; der Himmel berührt die Erde.



zuerst erschienen in Meine Zeit 2023
Taschenkalender Lydia, Gerth Medien